Aus „Osnabrücker Mitteilungen“ Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück, Band 127/2022, Seite 304
Rainer ROTTMANN, Tod am Stalbrink. Vollzug der Todesstrafe im Amt Iburg 1500 bis 1817, Hagen/Glandorf: Heimatverein Hagen a.T.W. 2021, 335 S.
Lokalhistorische Forschung hat häufig den Ruf, laienhaft betrieben zu werden und damit nur von begrenztem wissenschaftlichem Wert zu sein. Das verkennt jedoch, dass kaum besser als dort, wo durch die enge Nähe zum Untersuchungsgebiet großes Interesse und oft beharrliche Suche nach Neuentdeckungen mit der profunden Kenntnis der örtlichen Umstände und Gegebenheiten sowie auch dem Überblick über alle Arten der vorhandenen und auffindbaren lokalen Quellen zusammentreffen, sehr fundierte Forschungsarbeiten entstehen können. Vorausgesetzt, die Regeln der wissenschaftlichen Arbeit wie Unvoreingenommenheit zum Gegenstand und Nachprüfbarkeit der Quellenbelege und Schlussfolgerungen sind dabei gegeben. Spannende und aktuelle Fragen und Thesen der Geschichtsforschung können dabei in einem überschaubaren Raum auf ihre Tragfähigkeit und Überzeugungskraft in der Praxis überprüft werden. Sofern dabei zudem überkommene Sichtweisen und vertraute Darstellungen der bisherigen Ortsgeschichte in Frage gestellt und auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden, kann auch ein wichtiger Erkenntnisgewinn für die lokale Geschichte entstehen. Bedauerlich ist, wenn derartige Arbeiten dann nur wenig Aufmerksamkeit erlangen, weil sie nicht veröffentlicht werden oder in nur wenig wahrgenommenen Publikationen erscheinen. Das hier vorzustellende Werk mit einer bescheidenen Auflage von 150 Exemplaren sollte von diesem Schicksal möglichst verschont bleiben.
Kriminalitätsgeschichte treibt den Leserinnen und Lesern fraglos einen „frommen Schauer“ über den Rücken, Kriminalität ist Bestandteil des gegenwärtigen Alltags. Man trifft beim täglichen Blick in die Zeitung oder die Sozialen Medien ebenso darauf wie bei den Nachrichtensendungen in Radio und Fernsehen. Und als ob die realen Verbrechen nicht schon ausreichen, kommen viele Zeitgenossen ohne sonntäglichen „Tatort“ oder einen Kriminalroman nicht durch Urlaub und Freizeit: „Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett“, hieß es schon 1962 bei Bill Ramsey. Die Erscheinungsformen des Kriminellen sind dabei ausgesprochen vielfältig, von Bagatelldelikten im Verkehr über Diebstahl und Raub bis hin zu Gewalttaten und zur politischen Korruption und Agententhriller.
….Kriminalität (von lat. Cimen = Beschuldigung, Anklage, Verbrechen) ist allerdings keine festgefügte soziale Wirklichkeit, sondern ein kulturelles und gesellschaftliches Konstrukt. Für heutige Kriminologen beschreibt der Begriff „Kriminalität“ jene Tatbestände, die „das jeweilige Kontrollsystem – bestehend aus Verbrechensopfer und Anzeigenerstatter bis hin zu Polizei und Strafrechtspflege – besonders missbilligt und bestraft sehen will“ (G. Kaiser, Art. „Kriminalität“, in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch 1993). Während also aus der Sichtweise der Rechtswissenschaft Kriminalität über den Begriff der „Delinquenz“ (Straffälligkeit) erklärt wird, spricht die Soziologie eher von „Devianz“ (abweichendem Verhalten). Aus welcher Richtung man aber auch schaut, Kriminalität und abweichendes Verhalten, sind fraglos ein wichtiges Abbild gesellschaftlicher Zustände. Und wie sich diese im Lauf der Geschichte wandeln, so wandelt sich auch immer, was bzw. welche Taten man als kriminell betrachtete und sanktionierte. Man denke nur an Beleidigungsdelikte in der Frühneuzeit – jemanden damals öffentlich einen „Schelm“ zu nennen, galt als schwere Anschuldigung und Straftat und wurde hart bestraft, wie in vielen überlieferten Gerichtsakten nachzulesen ist. Sich mit diesen Quellen und überhaupt dem Phänomen des Kriminellen zu befassen, hat sich in der Geschichtswissenschaft in Deutschland recht spät, als „verspäteter Forschungszweig“ auf akademische Anregung aus dem angelsächsischen und französischen Raum etabliert. Seit den 1990er Jahren entstanden dann allerdings viel und vielseitige Studien mit Blick auf die unterschiedlichsten Themen. Delikte und Epochen, oft anhand von regional-historischen Studien und Quellen. Inzwischen darf man die Kriminalitätsgeschichte (vgl. Gerd Schwerhoff, Historische Kriminalitätsforschung, 2009) als einen etablierten Teil der Geschichtswissenschaft betrachten.
Auch für die Lokalgeschichte ist dieses Themenfeld spannend und interessant. Vor allem, wenn die Fälle mit bekannten Schauplätzen verbunden werden können, kann man sich der Neugier des Publikums sicher sein. Beredtes Zeichen dafür ist die große Zahl mehr oder weniger literarisch gelungener fiktiver „Regionalkrimis“ in der Unterhaltungsliteratur. Diese selbst sind schon wieder Gegenstand von Persiflagen, wie die „Überregionalkrimis“ des satirischen Autors Gerhard Henschel. Wahre Begebenheiten, d. h. historische Kriminalfälle aus der heimischen Stadt und Region sind ebenso gern Gegenstand populärer Darstellungen oder thematischer Stadtführungen usw. Oftmals setzen sich deren Inhalte zusammen aus bekannten Bruchstücken der Ortsüberlieferung, die vermischt mit einer gewissen Legendenbildung für hohen Unterhaltungswert sorgen. Ernsthafte Untersuchungen und Aufklärung der tatsächlichen Ereignisse und deren Einordnung in die historischen Zusammenhänge dagegen stellt ein eher mühevolles Unterfangen dar. Um so wertvoller ist es, wenn das geschieht wie nun in der von Rainer Rottmann in einer Veröffentlichung des Heimatvereins Hagen am T.W. vorgelegten Studie zum Vollzug der Todesstrafe im Amt Iburg in der Frühen Neuzeit. Iburg, wichtigster Verwaltungssitz des Fürstbistums Osnabrück außerhalb der Residenzstadt, war nicht nur Sitz eines Gogerichts, sondern besaß auf dem Stalbrink bei Oesede auch eine Hinrichtungsstätte für die Halsgerichtsbarkeit des gesamten Hochstifts.
Rottmann widmet sich in der verdienstvollen und vielseitigen Arbeit der Gesamtheit der Aspekte dieses justizhistorischen Komplexes, den Gogerichten und deren Hinrichtungsstätten in Stadt Osnabrück und dem Hochstift. Chronologisch werden alle nachweisbaren Hinrichtungen auf dem Stalbrink von 1532 bis 1817 vorgestellt und die bekannten Hintergründe der Fälle beschrieben. Besonders intensiv geht er den Biogafien von zwei legendenumwobenen Hingerichteten nach – dem Ankumer „Räuberhauptmann“ Hardemente (+1767) und dem Straßenräuber Johann Heinrich Stapenhorst (+1817), dem letzten dort gerichteten Delinquenten. Die akribische Zusammenstellung der in Archivalien auffindbaren Fakten zeichnet hier ein dichtes sozialgeschichtliches Bild der Lebensumstände der Betroffenen in der Zeit des Siebenjährigen Krieges bzw. des Schmuggeldelikts in der Phase der Napoleonischen Herrschaft. Kritisch geht Rottmann den verbreiteten Legenden über die Straftäter nach und überprüft ihren Wahrheitsgehalt. Das verschafft teils neue Erkenntnisse und wertvolle Richtigstellungen der regionalen Überlieferungen. So wird zum Beispiel in dem jüngst 2018 neu konzipierten Museum im Kloster in Bersenbrück in einer Hörstation an einem zentralen Punkt, dem Herdfeuer der nachgebauten Museumsdiele, die Legendenbildung rund um die Räuberbande des Hardemente thematisiert. Die biografischen Angaben zu ihm basieren auf den bisher bekannten Darstellungen, die nun in Teilen zu korrigieren wären. So kann Rottmann nachweisen, dass Hardemente keineswegs Hauptmann und Kopf der Bande gewesen ist, vielmehr war er „nur einer unter Gleichen. (…) Für eine hierarchische Struktur der Bande gibt es (…) in den ausführlichen Akten keinerlei Hinweise.“ Ebenso sind die ihm zahlreich angedichteten Morde nicht zu belegen, im Gegenteil: „Wäre Hardemente nämlich wegen Mordes und Raubmordes angeklagt und verurteilt worden, hätte man ihn nicht mit dem Strick hingerichtet, sondern als Mörder geköpft und anschließend auf das Rad geflochten.“
Die harten, teils grausamen Umstände des Strafvollzugs werden minutiös nachvollzogen: Das betrifft etwa die Form und Haftbedingungen im Kerker auf der Iburg, die dortige Hygiene und das Wachpersonal. Es gibt weiterhin erhellende Einblicke in den Ablauf der letzten Tage vor der Hinrichtung – was gab es an geistlichem Beistand, an medizinischer Versorgung und wie sah die Henkersmahlzeit aus? Ebenso berichtet das Buch von dem Ablauf der öffent-lichen Hinrichtung als Ritual und Schauspiel sowie dem damit verbundenen Aberglauben. Schließlich schildert es auch die von den Bauern des Ortes zu leistenden (und teils vehement verweigerten) „Galgendienste“ sowie weitere Aspekte, zu denen die Hinrichtungsarten oder biografische Notizen zu allen bekannten Osnabrücker Scharfrichtern zählen.
Begleitet durch viele, gut ausgewählte Abbildungen und Illustrationen hat man das Gefühl, fundiert, gut und umfassend über ein „schauerliches“ Kapitel der Landesgeschichte informiert worden zu sein, wenn man das Buch aus der Hand legt. Rottmanns „Tod am Stalbrink“ bildet einen wesentlichen Beitrag zur Justizgeschichte des Osnabrücker Landes, der beispielhaft auch für Studien in anderen Regionen sein sollte und eine Leserschaft weit über den lokalen Kreis des Ortes Hagen bzw. Bad Iburg hinaus verdient.
Badbergen / Bad Salzuflen Arnold Beuke
Aus „Osnabrücker Mitteilungen“ Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück, Band 127/2022, Seite 304